Rückblick: War der Brexit so schlimm?
Der Brexit hat zu vielen Veränderungen im Handel zwischen Großbritannien und Deutschland bzw. der EU geführt. Zollformalitäten und Verzögerungen machen insbesondere kleineren Logistikern zu schaffen.

Seit dem knappen Referendum im Juni 2016 hat der Brexit für viel Tumult gesorgt. Bis zum tatsächlichen Austritt Ende Januar 2020 vergingen mehr als dreieinhalb Jahre. Alles begann mit der Forderung Englands nach der Reform der Europäischen Union (EU). England fühlte sich durch die EU gegängelt und wünschte speziell eine Regelung der Migrantenfrage. Dementsprechend skizzierte der damalige Premier David Cameron im Jahr 2014 die gewünschten Reformen. Kurz umrissen waren dies u. a. zusätzliche Einwanderungskontrollen und strengere -regeln, ein Vetorecht gegen Gesetzesvorhaben der EU, neue Freihandelsabkommen und ein Bürokratieabbau für Unternehmen sowie mehr Macht für die einzelnen EU-Mitgliedsstaaten. Da Cameron nur teilweise Zugeständnisse von der Europäischen Union in den Reformverhandlungen erhielt, erklärten Vertreter der Leave-Kampagne, zu denen auch Boris Johnson gehörte, diese als gescheitert. Infolge wurde der EU-Austritt durch das Referendum angestrebt.
Kurze Chronologie des Brexits
Im Jahr 2014 konnte die britische Regierung unter Premierminister Cameron die Forderungen nach einem Austritt aus der Europäischen Union nicht länger ignorieren und ließ den Volksentscheid vorbereiten. Darauf entschieden sich die Briten am 23. Juni 2016 mit einer knappen Mehrheit von 51,9 Prozent gegenüber 48,1 Prozent für den Austritt aus der Europäischen Union.
Ein konsultatives Referendum dient der Befragung (Konsultation) der Bevölkerung und hat keine rechtlich bindende Wirkung. Daher teilte die neue Premierministerin Theresa May am 29. März 2017 den Austritt aus der Europäischen Union und aus EURATOM gemäß Artikel 50 des Vertrags über die Europäische Union durch schriftliche Mitteilung an den Europäischen Rat rechtswirksam mit. Danach begann eine zweijährige Verhandlungsphase über die Einzelheiten des Austritts, die im Jahr 2019 noch dreimal verlängert wurde.
Nach dem offiziellen EU-Austritt am 31. Januar 2020 herrschte eine Übergangsphase bis der neue Premier Boris Johnson am 30. Dezember 2020 eine Einigung über den EU-Austritt (Brexit-Handelspakt) erzielte und damit gerade noch den ungeregelten Austritt ("Cold Brexit") Großbritanniens aus der EU vereiteln konnte. Das britische Unterhaus stimmte dem Pakt mit überwältigender Mehrheit zu. Wichtige Änderungen im EU-Gesetz betreffen den Güterhandel, die Logistik, die Luftfahrt, sowie die Finanzbranche.
Als Mitgliedstaat der EU waren die Briten bisher Vertragspartner zahlreicher Freihandelsabkommen. Seit dem Austritt aus der EU haben die Briten eigene Freihandelsabkommen verhandelt und abgeschlossen. Zahlreiche Abkommen sind nun seit dem 1. Januar 2021 vollständig in Kraft, andere Abkommen dagegen nur vorläufig oder noch gar nicht.
Auswirkungen auf Großbritannien, Deutschland und EU
Experten rechnen aufgrund des Brexits mit langfristigen negativen Folgen für die Wirtschaft Großbritanniens. Zudem leidet das Land natürlich ebenso stark unter der Corona-Pandemie. Wie schlimm ist es aber bisher gekommen und wie sieht der Ausblick auf die künftigen Entwicklungen aus?
Zunächst einmal kam der Austrittsvertrag für viele Unternehmen zu spät. Schon Mitte Dezember 2020 stauten sich die Lkw am Grenzübergang Dover. Die Stadt besitzt die geringste Entfernung zum europäischen Festland (Calais in Frankreich). Laut dem Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) Joachim Lang waren die Vorbereitungen der Regierung in London und in vielen britischen Unternehmen nicht ausreichend, um die zusätzliche Bürokratie und unnötige Grenzformalitäten abzufedern. „Wir rechnen damit, dass die Engpässe mindestens bis zur Jahreshälfte andauern“. Besonders der höhere bürokratischen Aufwand dürfte auch deutschen Unternehmen zu schaffen machen. Gemäß dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) werden allein deutsche Unternehmen künftig rund zehn Millionen Zollanmeldungen pro Jahr einreichen müssen. Dabei belaufen sich die zusätzlichen Kosten auf rund 400 Millionen.
Der Brexit wirkt sich momentan dramatisch auf den Handel zwischen Großbritannien und Deutschland bzw. der EU aus. Die deutschen Exporte nach Großbritannien sind laut Statistischem Bundesamt in den ersten beiden Monaten 2021 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 20,5 Prozent auf 9,7 Milliarden Euro gesunken. Die Importe aus dem Vereinigten Königreich brachen im Januar und Februar zusammen um 39,6 Prozent auf 4,4 Milliarden Euro ein. Viele deutsche Unternehmen stellen wegen des Brexits ihre Lieferketten um, was den Handel mit Großbritannien weiter bremsen wird.
Auch der Handel zwischen Großbritannien und der Europäischen Union insgesamt wurde stark in Mitleidenschaft gezogen. Die britischen Exporte in die europäischen Länder brachen im Januar 2021 um 40 Prozent ein, während die Importe des Vereinigten Königreichs aus der EU um 28,8 Prozent sanken. Laut dem Statistischem Bundesamt sind dafür aber der Brexit sowie die Pandemie verantwortlich. Britische Firmen müssen sich für den Handel mit der EU komplett neu aufstellen. Manche haben ihren Onlinehandel aufgrund der zusätzlichen Zollgebühren (vorübergehend) komplett eingestellt. Gemäß der Bank of England summieren sich die vielen kleinen Einbußen zu einem volkswirtschaftlichen Schaden, der das Land vier Prozent Wachstum kosten könnte.
Folgen für die Automobil-, Maschinenbau- und Logistikbranche
Die britische Automobilbranche ist weiterhin stark durch die Corona-Pandemie und das Thema Brexit belastet. Es gibt keine andere Industrie die enger miteinander vernetzt ist als die europäische Automobilindustrie. Sie ist von komplexen Just-in-time (JIT)-Lieferketten abhängig. Die deutsche Automobilindustrie unterhält in Großbritannien mehr als 100 Produktionsstätten, von denen die meisten Zulieferunternehmen gehören. Die britischen Zulieferer sind wiederum stark vom EU-Markt abhängig. Allerdings hat sich die Automobilindustrie bereits seit 2016 kontinuierlich auf erschwerte Handels- und Produktionsbedingungen und eine geringere Bedeutung des britischen Marktes eingestellt. Für viele exportorientierte Unternehmen in Europa dürfte der mit dem Freihandelsabkommen einhergehende Mehraufwand verkraftbar sein.
Durch das Freihandelsabkommen entstehen auch im Maschinenbau keine neuen Zölle zwischen der EU und Großbritannien. Für das Vereinigte Königreich ist Deutschland der wichtigste Maschinenlieferant. 21 Prozent aller nach Großbritannien eingeführten Maschinen stammen aus der Bundesrepublik. Umgekehrt bezieht Deutschland den Großteil seiner importierten Maschinen aus China.
Die Logistikbranche wird durch den Brexit hauptsächlich durch zusätzliche Zollformalitäten, höhere Kosten und Verzögerungen belastet, was z. B. bei JIT-Lieferketten wie in der Automobilindustrie gängig ein größeres Problem darstellen kann. Die neue Zoll- und Einfuhranmeldung für die Europäische Union sieht vor, dass alle verschiedenen Arten von Waren in einer Ladung einzeln aufgeführt und entsprechend kontrolliert werden müssen. Logistiker müssen mit umfangreichen Katalogen von Richtlinien zur Überführung von Frachten rechnen. Während Großunternehmen wie DHL, Kühne & Nagel und Schenker sich gut auf die neuen Anforderungen eingestellt haben, leiden kleinere Logistikunternehmen unter den neuen bürokratischen Hürden.
Wer nur als Tourist oder Geschäftsreisender nach Großbritannien fährt und die deutsche Staatsangehörigkeit hat, braucht bis zu sechs Monaten kein Visum.
Langfristiger Ausblick
Grundsätzlich könnte der Brexit einen Vorbildeffekt für andere Länder wie Griechenland oder Italien haben, die ebenfalls eine Gängelung durch die EU beklagen. Sollten sich andere Länder zu einem Ausstieg aus der EU entschließen, würde das ganze Bündnis und dessen Existenz infrage gestellt werden. Mit jedem Ausstieg verschiebt sich das Machtgefüge in der Europäischen Union.
Durch den Handelspakt und das Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union sollten die Auswirkungen des Brexits auf die deutsche Industrie langfristig überschaubar bleiben. Für das Vereinigte Königreich allerdings sind die Auswirkungen gravierend. Nicht nur der Handel mit wichtigen Handelspartnern wurde erschwert, sondern viele Unternehmen und Privatiers wollen in Zukunft weniger in Großbritannien investieren. Insbesondere Unternehmen der Finanzwelt verlassen die Insel. Finanzdienstleistungen sind vom neuen Handelsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich nicht abgedeckt. Laut Handelsblatt wanderten zudem rund sechs Milliarden Euro tägliches Handelsvolumen am ersten Börsentag des Jahres 2021 aus London nach Amsterdam, Paris und anderen EU-Standorten ab. Damit verlor das britische Finanzzentrum bereits auf einen Schlag fast die Hälfte seines Aktienhandels.
Literatur:
Ivanov Angelika, Imöhl Sören, Das sind die Brexit-Folgen für Großbritannien, Deutschland und die EU, Handelsblatt, 03 März 2021, Link